Interview von Claude Meisch im Tageblatt

"Umstellung der Lehrer erfordert"

Interview: Tageblatt (Eric Rings)

Tageblatt: Wieso sind die digitalen Zukunftskompetenzen wie Coding oder Computational Thinking so wichtig für die Schüler?

Claude Meisch: Wir wissen nicht genau, was die Zukunft ausmachen wird. Wir wissen aber, dass sie irgendwie digital sein wird. Das merken wir heute und wir merken, dass sich das noch verstärken wird. Einerseits gibt es eine Reihe Aspekte, die eher Angst machen, andererseits welche, die große Hoffnungen machen. Für mich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Unsere Aufgabe ist es, diese Themen im richtigen Gleichgewicht in die Schulen einzubringen. Es handelt sich dabei um digitale Kompetenzen, das Verständnis, wie ein Computer funktioniert, algorithmische Prinzipien und das Codieren. Gleichzeitig darf man die Rolle des Menschen in der digitalen Welt nicht vergessen, so wie es mit der Robotisierung in der Industrie passiert ist. Wir müssen darauf achten, was wir heute den jungen Menschen mitgeben, damit sie komplementär zum Computer ihre Aufgabe im Produktionsprozess oder im Wirtschaftsleben finden können. Daneben sollten wir dafür sorgen, dass sie sich auch als Mensch, als Bürger mit kritischem Denken wiederfinden.

Tageblatt: Wie sieht es mit der Fortbildung für die Lehrkräfte aus, die diese neuen Kurse halten werden?

Claude Meisch: Wir wollen ja ganz konkret Elemente von Coding - das sind algorithmische Prinzipien, also logisches Denken, algorithmisches Denken - auch in der Grundschule einführen, dies ab der "Rentrée" dieses Jahr im "Cycle" 4. Ab dem Schuljahr 2021/2022 wollen wir dies dann auch transversal in den "Cycles" 1 bis 3 stärker thematisieren. Und da ist es natürlich unsere Sorge, dass wir die Lehrkräfte auch mitnehmen, also fit machen darin. Wobei ich auch klar sagen will, dass wenn wir von Coding in der Grundschule reden, dann geht das in der Regel ohne Bildschirm. Wir sitzen also nicht im Informatiksaal, jeder startet den Computer und dann codieren die Kinder eine Stunde lang. Das ist es nicht. Die Schüler werden extrem spielerisch und altersgerecht ans Codieren herangeführt. Die Lehrer haben bislang kein Coding in ihrer Ausbildung gehabt. Deshalb unterstützen wir sie natürlich. Demnächst organisieren wir eine große Tagung, an der wir die Lehrkräfte für das Thema sensibilisieren werden. Daneben bieten wir Fortbildungen an und werben spezialisierte Lehrer mit Digitalkompetenzen an. In jeder der 15 Regionen soll ein solcher Grundschullehrer eingestellt werden, der dort Spezialist ist und sein Wissen an die anderen Lehrkräfte weitergeben kann. Dieser soll den anderen Lehrern Rede und Antwort stehen, ihnen Beispiele zeigen und bei Bedarf auch eine Weiterbildung für eine ganze Schule anbieten. Es ist trotzdem eine Herausforderung, dass die Lehrer bei dieser Entwicklung weiterkommen und dass sie das Maximum dieser Werkzeuge dann auch im Unterricht einsetzen können. Es geht einerseits darum, digitale Kompetenzen zu vermitteln, also das, was der Mensch in der digitalen Welt braucht, und andererseits darum, das Digitale zu nutzen, um einen besseren Unterricht zu halten beziehungsweise anders unterrichten zu können. Das erfordert allerdings eine Umstellung der Lehrer. Das geht nicht von heute auf morgen.

Tageblatt: Haben Sie ein konkretes Beispiel für Coding und Computational Thinking?

Claude Meisch: In der Grundschule geht das eine in das andere über. Computational Thinking ist noch viel breiter gefächert. Da geht es um logisches Denken, Problemlösungen, Probleme, die man strukturiert erkennen und Lösungen entwickeln kann. Dies fehlt uns bislang, das hat die ICILS-Studie ("International Computer and Information Literacy Study") ja gezeigt. Das hat uns nicht überrascht. Wir haben da teilgenommen, um ein Benchmark zu haben vor all den Anstrengungen, die wir nun unternehmen, um dann bei der nächsten ICILS-Studie 2023 zu sehen, was das denn eigentlich gebracht hat. Ich habe den Eindruck, und das scheint sich seit meiner Schulzeit nicht fundamental geändert zu haben, dass wir stets vorgefertigte Lösungswege vorschlagen, die die Schüler sich dann einprägen. Als ich dann studiert habe, saß ich da und habe Zeit damit verbracht, den Lösungsweg selber zu finden. Diese Tradition gab es bei uns nicht. Diese Kompetenz müssen wir aber in Zukunft fachübergreifend vermitteln. Und da sind wir ganz nah an dem, was der Informatiker beim Codieren macht. Der hat verschiedene Werkzeuge, die er einsetzen und miteinander verbinden kann, damit er am Ende zu einer Lösung seines Problems kommt. Deshalb denke ich, dass die Problemlösungskompetenz in Zukunft etwas Wichtiges in der digitalen Welt sein wird.

Tageblatt: Wie wird den Schülern denn Coding beigebracht?

Claude Meisch: Das soll mit kleinen Beispielen des Codierens beginnen, wie die typischen If-Funktionen: if... then. Das ist etwas, das Schüler nicht auf dem Computer machen müssen. Wir haben zum Beispiel einen Teppich, der in Rechtecke eingeteilt ist und eine Spielzeug-Biene. Die Biene geht über den Teppich. Sie muss ihren Weg zu einem bestimmten Ziel finden. Auf jeder Kreuzung stellt sie eine Frage. Die Schüler programmieren die Biene anhand der Knöpfe, die sich auf ihrem Rücken befinden. Wenn dieses erfüllt ist, dann geht sie nach rechts, wenn jenes erfüllt ist, geht sie nach links. Oder geradeaus. Die Schüler müssen sich die Frage stellen, was die Bedingung ist, damit die Biene an dieser Stelle nach rechts geht. Das sind die Funktionalitäten; mit denen danach auch codiert wird. Es geht darum, dies in das Denken der Schüler zu integrieren, sodass es etwas ganz Normales für sie wird. Wir wollen dies ja ab nächstem Schuljahr in der Grundschule einführen, ein Jahr später soll ein neues Fach auf 7e mit dem Arbeitstitel Computer Science folgen, in dem wir das dann vertiefen. Im Sekundarunterricht geht es um die Elemente des Codings, um Hardware, die Funktionsweise einer Cloud, die Bedeutung von Big Data, die Prinzipien des Gamings. Heute werden diese Themen nur auf Sektionen gelehrt, wo wir Informatiker ausbilden. In der Welt von morgen wird das alles sehr präsent sein. Deshalb ist es wichtig, dass alle Schüler ein Grundverständnis davon kriegen. Der zweite Grund für diese Kurse ist, dass wir durch die Prozesse der Digitalisierung einen immer größeren Bedarf an Spezialisten brauchen und deshalb mehr junge Menschen dafür sensibilisieren sollten, damit sie sich besser entscheiden können, ob sie eine solche Richtung beruflich einschlagen wollen.

Tageblatt: Hätten Computational Thinking und Coding nicht schon früher in die Stundenpläne einfinden können, zum Beispiel mit der Einführung der iPad-Klassen, wobei beides ja nicht wirklich zusammenhängt?

Claude Meisch: Sicherlich. Das ist klar. Die ICILS-Studie zeigt ja auch, dass wir da einen gewissen Rückstand haben. Ich glaube aber, dass wir nicht alle paar Jahre neue Schulfächer einführen können. In der vergangenen Legislaturperiode haben wir das Fach "Vie et société" eingeführt. Es war ein großer Kraftakt, das Fach kohärent von der 1. Klasse der Grundschule bis zu den obersten Klassen des Sekundarunterrichts aufzuziehen. CT und Coding einzuführen, ist noch mal ein vergleichbarer Kraftakt, den wir diese Legislaturperiode angehen. Wir wissen, dass wir da nicht besonders früh dran sind, aber wir wollen das nun konsequent angehen. Es hat tatsächlich relativ wenig mit den iPad-Klassen zu tun. Das Tablet ist ein digitales Werkzeug. Niemand muss wissen, wie es drinnen funktioniert. Man muss es auch nicht programmieren können. Wir sehen es als Werkzeug, mit dem die Schüler lernen können. Das iPad ist der Ersatz der Tafel, des Heftes, des Buches. Aber eigentlich ist es nicht nur ein Ersatz, denn es hat viel mehr Funktionalitäten. Wenn ich auf dem iPad einen Inhalt habe, dann kann der multimedial ganz anders aufgebaut sein als in einem Buch oder als das, was der Lehrer an die Tafel schreibt. Es geht um Vernetzung, Informationsfluss zwischen den Schülern und dem Lehrer, ein anderes Feedback. Dennoch reicht es nicht, bloß iPads an die Schüler zu verteilen, sondern wir müssen auch gezielt digitale Kompetenzen vermitteln.

Tageblatt: Sowohl in der ICILS-Studie als auch bei PISA wurde bemängelt, dass Schüler mit Migrationshintergrund und jene, die aus sozioökonomisch schwächeren Familien stammen, bedeutend schlechtere Resultate erzielten. Was ist der Plan, um dies in Zukunft bei der Digitalisierung zu verhindern?

Claude Meisch: Das ist in dem Sinne nicht wirklich neu, weil uns jede Bildungsstudie das sagt. Das ist generell eine Herausforderung. Da geben wir folgende Antworten drauf: Wir müssen darauf achten, dass jedes Kind in den Genuss der Frühförderung kommt, dass die Kommunikationskapazitäten gestärkt werden, dass in den Schulen mehr Auswahl angeboten wird und das Profil des Schülers, sein sprachlicher Hintergrund mehr einbezogen wird. Im Endeffekt sollten die digitalen Kompetenzen nicht davon abhängen, aus welchem Elternhaus man stammt. Dennoch merken wir, dass die Situation zu Hause, das Bildungsniveau der Eltern, der sozioökonomische Status der Eltern, der Migrationshintergrund, unterschiedliche Kulturen, dass das alles eine Rolle spielt. Zwei- bis dreijährige Kinder stundenlang vor den Fernseher sitzen zu lassen oder bei jeder Gelegenheit das Tablet als Babysitter einzusetzen, ist nicht gut für die Kinder. Das sagt uns die Wissenschaft. Wir müssen die Eltern sensibilisieren. Parallel zur Einführung des Codierens in der Grundschule werden wir zum Beispiel eine Sensibilisierungskampagne starten, in der wir darauf aufmerksam machen, dass es nicht gut ist für die Kinder, ständig auf digitalen Geräten unterwegs zu sein. Neben der Sensibilisierung der Eltern ist ein weiterer Punkt wichtig: In der Schule sollen alle Kinder einen sinnvollen und verantwortungsvollen Umgang mit den digitalen Werkzeugen lernen. Wir wollen also nicht nur die digitalen Kompetenzen der Schüler stärken, sondern auch den Menschen. Ein starker junger Mensch wird nicht direkt abhängig von einem Computerspiel oder von Fortnite auf der Playstation. Der hat auch andere Interessen und ist stark genug, den psychologisch ausgeklügelten Tricks, die von der Gamerindustrie darin versteckt werden, zu widerstehen.

Tageblatt: Wie wird Luxemburg denn 2023 bei der nächsten ICILS-Studie abschneiden?

Claude Meisch: (lacht) Wir haben die Ambition, deutlich besser abzuschneiden, als dass heute der Fall ist. Das ist sicher. Und ich glaube auch daran. Ich denke schon, dass wir mit den Interventionen, die wir machen, dort besser werden können. Wir sollten uns auch der Studie stellen und nicht sagen: Jetzt haben wir das Codieren in der Grundschule, das machen wir flächendeckend; wir haben auch ein neues Fach im "Secondaire” und das war's. Ich glaube schon, dass wir auch noch etwas weiter überlegen sollten. Ich denke auch über neue pädagogische Herangehensweisen nach, durch die die Eigenständigkeit des Schülers gefördert werden kann, da gibt es ja heute Möglichkeiten dazu. Durch den Einsatz des Tablets könnte der Lehrer mehr zum Coach werden und weniger einen magistralen Unterricht halten. Da steckt enormes Potenzial drin. Ich glaube schon, dass wir darüber nachdenken sollten, wo wir solche Elemente in unseren Schulen mit integrieren können.

Tageblatt: Welche Projekte gibt es da?

Claude Meisch: Eines unserer Projekte ist ein Pilot-"Lycée" auf Belval. Das wird wahrscheinlich 2023 seine Tore öffnen. Hier wird der Akzent auf die digitalen Aspekte gelegt, was aber nicht heißt, dass jeder computermäßig funktioniert. Der Mensch soll gestärkt werden, um in der digitalen Welt klarzukommen. Wir hoffen, dass nach diesem Vorbild andere Schulen und andere Lehrer sich daran inspirieren können und dass sie Fortbildungen und Praktika dort machen wollen, damit das Konzept landesweit Einzug in die Schulen erhält. Die Schule soll neben dem bestehenden "Lycée Belval" gebaut werden. Bislang gibt es ja bereits eine Pilot-Schule, das "Lycée. Ermesinde" in Mersch. Die Schule funktioniert mit einer anderen pädagogischen Herangehensweise. Es gibt viel Projektpädagogik, die Schüler arbeiten eigenständig, holen sich ihr Wissen, kombinieren das miteinander. Es ist genau das, was in Zukunft mehr gefragt sein wird, dieses eigenständige, transversale Arbeiten, heraus aus dem Blick des einzelnen Faches. Das wird auch in der digitalen Welt gefragt sein. Deshalb kommt das "Lycée" jenem neuen auf Belval sehr nahe, obwohl das Digitale in Mersch weniger thematisiert wird.

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